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Das Haus wurde von allen Seiten von schwer bewaffneten Agenten gesichert. Unmöglich, da reinzukommen, ohne nicht zumindest von einem von denen, die das Haus überwachten wie die vampirische Variante einer Antiterroreinheit, bemerkt zu werden. So, wie sie aussahen, mit ihren schwarzen Helmen mit getöntem Visier, der Kampfmontur und den knochenzerfetzenden Maschinengewehren, die sie im Anschlag hielten, würde jeder Einzelne von ihnen zuerst schießen und dann erst Fragen stellen.
Dank der Agenten, die sie neulich bei Jack überfallen hatten, hatten Renata und Nikolai das Fahrzeug und waren auch mit Uniformen und Waffen eingedeckt. Renata dachte nicht, dass sie so viel Glück haben würde, sich unbemerkt in das Gebäude zu schleichen, aber in diesem Aufzug konnten die wachhabenden Agenten sie auf den ersten Blick schon für einen von ihnen halten.
Sie setzte den Helm auf, den sie aus dem Geländewagen mitgenommen hatte, und klappte das dunkel getönte Visier herunter. Dann versuchte sie so gut wie möglich, den wiegenden Gang eines Soldaten nachzuahmen, und trat aus dem Wald. Sie näherte sich dem Vampir, der die Westseite des Hauses bewachte.
Er entdeckte sie sofort. „Henri? Was zum Henker treibst du da draußen?"
Renata zuckte die Schultern und hob ihren unverletzten Arm, als wollte sie damit sagen: Woher zum Teufel soll ich das wissen? Sie konnte nicht riskieren, mit ihm zu sprechen - genauso wenig, wie sie riskieren konnte, ihre Waffe zu benutzen, um dieses Hindernis niederzumähen. Wenn sie eine Salve abfeuerte, hätte sie sofort die gesamte Securitytruppe auf dem Hals. Nein, sie musste jetzt kühlen Kopf bewahren und einfach weiter auf ihn zugehen, in der Hoffnung, dass er nicht auf Verdacht das Feuer auf sie eröffnete. „Was ist los mit dir, du Idiot?"
Wieder zuckte Renata mit den Schultern. Kam noch näher heran.
Ihre Finger kribbelten vor Lust, ihre Klingen fliegen zu lassen - er war ein leichtes Ziel, wie er so dastand, unbeweglich wie ein Baumstumpf-, aber der kleinste Hauch von frischem Blut in der Luft würde sofort jeden Vampir der Umgebung auf sie aufmerksam machen. Renata wusste, dass sie nahe genug an ihn herankommen musste, um ihn mit ihrer mentalen Waffe zu erreichen. Ihre einzige Chance war, ihm einen schnellen, heftigen mentalen Schlag zu verpassen.
„Du undankbares Arschloch, Henri, zurück auf deinen Posten", knurrte der Agent. Er griff nach einem kleinen Funkgerät, das an seinen Gürtel geschnallt war. „Das melde ich Fabien. Wenn du ihn wütend machen willst, bitte, aber damit will ich nichts zu tu..."
Mit all der Kraft, die ihr zu Gebote stand, entfesselte Renata einen gewaltigen mentalen Energiestoß und schoss damit auf den vor ihr stehenden Vampir. Sein Satz brach mit einem Grunzen ab, er fiel wie ein Stein zu Boden. Sie beschoss ihn, bis er sich nicht mehr regte. Als sie sicher war, dass er tot war, bückte sie sich und nahm ihm die Waffe und das Funkgerät ab.
Renata öffnete die Seitentür einen kleinen Spalt und warf einen schnellen Blick in den Raum. Es war niemand dort. Sie schlüpfte hinein, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, der Atem ließ ihr geschlossenes Helmvisier beschlagen.
Bei all ihrer Wut auf Nikolai, weil er ihr nicht gesagt hatte, dass Mira hier bei Fabien war, fühlte sie nun nur noch Dankbarkeit, dass der Orden herausgefunden hatte, wo sich das Kind befand. Es war zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, wie die Dinge zwischen ihr und Nikolai standen, seit sie ihn zurückgelassen hatte. Es war auch zu spät, sich darüber Sorgen zu machen, dass sie vielleicht doch auf ihn und seine Waffenbrüder als Verstärkung hätte warten sollen. Ein Teil von ihr wusste, dass sie unfair gewesen war, aber sie konnte es nicht mehr ungeschehen machen.
Allein aufgrund ihrer verletzten Gefühle hatte sie eine unüberlegte Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen.
Eine Entscheidung, die sie ihre Freundschaft mit Nikolai kosten konnte - vielleicht sogar seine Liebe. Aber so sehr sie das jetzt auch bereute, sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Nikolai würde ihr vielleicht nie verzeihen, dass sie seine Mission gefährdet hatte; wenn es so war, würde sie es verstehen.
Nun betete sie, dass nicht Mira den Preis dafür zahlen musste.
Das nervende Summen eines Handys, das neben seinem Kopf vibrierte, brachte Niko wieder zu sich. Er lag auf dem Boden neben dem Fahrzeug. Keine Ahnung, wie lange schon. Wieder vibrierte das Handy neben ihm im Gras und im alten Laub, das den Waldboden bedeckte. Es kostete ihn fast all seine Kraft, nur die Hand zu heben und sich das verdammte Ding zu schnappen. Mit ungelenken Fingern klappte er es auf. Versuchte, etwas zu sagen, aber ihm gelang nur ein trockenes Krächzen.
„Ja", sagte er noch einmal und zwang seine unwilligen Glieder, sich vom Boden zu erheben, bis er halbwegs aufrecht an den Vorderreifen des Geländewagens gelehnt saß.
„Niko?" Rios Stimme drang aus dem Handy an sein Ohr, ernst vor Sorge. „Du klingst echt scheiße, Amigo. Rede mit mir. Was ist da los?"
„Renata", sagte er und hielt den Kopf in beiden Händen.
„Ist sauer ..."
Rio fluchte. „Ja, das hab ich auch gemerkt. Meine Schuld, Mann. Mir war nicht klar, dass sie nicht Bescheid wusste, dass sie das Mädchen gestern Abend hergebracht haben ..."
„Sie ist weg", sagte Niko. Als er daran dachte, begannen seine Lebensgeister wieder zu erwachen, als hätte man in ihm den Schalter eines Notstromaggregats umgelegt. „Ach, verdammte Scheiße, Rio ... ich hab sie verärgert, und jetzt ist sie allein losgezogen, um Mira zu retten."
„Madre de Dios."
Am anderen Ende hörte er, wie Rio Tegan und den anderen eine kurze Zusammenfassung der Lage gab. „Und das ist noch nicht das Schlimmste, alter Junge", fügte Nikolai hinzu und ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Kopf, als er vom Boden aufstand und mit unsicheren Beinen zum Kofferraum des Geländewagens stolperte. „Diese Versammlung von Fabien? Sie ist größer, als wir angenommen haben ... Dragos ist auch da oben."
„Bist du sicher?"
„Ich hab den Dreckskerl mit eigenen Augen gesehen. Er ist hier." Nikolai griff sich Maschinenpistolen aus dem Kofferraum, so schnell seine trägen Arme sich bewegen konnten. Er hängte sich die Gewehre um und steckte eine Pistole hinten in den Hosenbund seiner gestohlenen Agenturuniform, eine weitere in ein Knöchelhalfter. „Das Haus ist von Wachen umstellt. Wenn ihr ankommt, kommt zu Fuß und teilt euch auf."
„Niko, was machst du da?" Er antwortete nicht; er war sich sicher, dass seine Antwort seinem alten Freund nicht gefallen würde. Stattdessen zog er Reservemagazine aus dem Wagen und belud sich mit so viel Munition, wie er tragen konnte. „Zwei Männer stehen auf halber Strecke des Zufahrtsweges und drei vor dem Haus. Nehmt euch die zuerst vor, so kommt ihr am einfachsten rein."
„Nikolai." Rios Stimme war tief und warnend. „Amigo, was immer du vorhast ... tu's nicht."
„Sie ist da drin, Rio. Da drin mit Dragos und Fabien und Gott weiß wem noch ... und sie ist allein. Ich geh da rein und hole sie."
Rio stieß etwas Unflätiges auf Spanisch aus. „Bleib, wo du bist. Wir sind keine zehn Minuten von dir entfernt, und wir fahren, was das Zeug hält, Mann."
Niko schlug den Kofferraumdeckel des Geländewagens zu.
„Ich werde rund ums Haus für etwas Ablenkung sorgen ..."
„Gottverdammt, Niko, wenn diese Frau sich umbringen will, ist das nicht dein Problem. Wir werden ihr helfen, so gut wir nur können, aber ..."
„Sie ist meine Stammesgefährtin, Rio." Niko stieß einen derben Fluch aus. „Wir haben die Blutsverbindung geschlossen ... und ich liebe sie. Ich liebe sie mehr als mein Leben."
Der Krieger am anderen Ende stieß einen tiefen Seufzer aus, als er begriff, und gab sich geschlagen. „Ich schätze, es hat keinen Sinn, dir zu sagen, dass du Lucans unmittelbaren Befehlen zuwiderhandelst, wenn du da jetzt reingehst.
Wenn Dragos dort ist, macht das diese ganze Scheiße noch heikler, und das weißt du. Du musst jetzt bleiben, wo du bist, und die Verstärkung abwarten."
„Geht nicht", erwiderte Nikolai.
Er klappte das Handy zu und warf es durch das offen stehende Fenster auf der Fahrerseite. Dann machte er sich auf, seine Frau zu suchen.